Schon im Huang Di Nei Jing, dem "Inneren Klassiker des gelben Kaisers" findet die Zungendiagnose Erwähnung. Schon im Zeitalter der Shang-Dynastie (16. Jahrhundert v. Chr. bis 1066 v. Chr.) war sie eine wichtige Diagnosemethode und wurde im Laufe der folgenden Jahrhunderte weiter verfeinert (Ming-Dynastie 1368-1644 n. Chr.).
Die Zungendiagnose stellt eine wichtige Ergänzung zur Pulsdiagnose dar. Ihr Vorteil liegt, neben der leichteren Erlernbarkeit, darin, dass die Veränderungen der Zunge nicht so schnell stattfinden wie die des Pulses und somit nicht durch Ereignisse, die erst ganz kurz vor der Diagnose stattgefunden haben verfälscht werden können. Dadurch kann sie allerdings auch nicht, so wie die Pulsdiagnose, als eine Methode zur Erfolgskontrolle noch während der Behandlung eingesetzt werden. Die Zungendiagnose zeigt oft verlässlich die zugrunde liegende Störung an, ist aber nicht so detailgenau, wie die durch einen erfahrenen Praktiker ausgeübte Pulsdiagnostik. Bei oberflächlichen Krankheiten reagiert der Zungenbelag schneller als der Zungenkörper und wird deshalb diagnostisch wichtiger. Bei Krankheiten im Inneren und chronischen Krankheiten hingegen ist der Zungenbelag weniger wichtig als die Veränderungen des Zungenkörpers.
Die gesunde Zunge ist von normaler Größe und Beweglichkeit, nicht nach einer Seite hin abweichend, der Zungenkörper ist leicht gerötet und leicht feucht, der Belag ist schwach mit durchscheinender Zunge, nicht abwischbar und leicht glänzend.
Der Zungenkörper wird nach Form, Farbe, Haltung und Beweglichkeit beurteilt. Beispiele: ein geschwollener Zungenkörper weist auf eine Yang-Qi-Leere oder auf Hitze im Körper hin, Zahneindrücke an den Zungenrändern auf Milz-Qi-Leere und Nieren-Yang-Mangel. Eine dünne, verkleinerte Zunge weist auf einen Yin-Mangel oder Qi-Mangel oder "Blut"-Mangel hin. Ein blasser Zungenkörper weist auf Qi-Mangel und Blut-Mangel oder ein sog. Mangel-Kälte-Syndrom hin, ein roter Zungenkörper auf Fülle-Hitze oder Mangel-Hitze. Ein purpurfarbener Zungenkörper weist auf Blut-Stase hin. Eine zitternde Zunge ist ein Hinweis auf Mangel an Qi, Blut, Körperflüssigkeit und Yang oder auf "inneren Wind".
Der Zungenbelag wird nach Art, Menge, Farbe, Lokalisation und "Wurzel des Zungenbelages" (d.h. ob abwischbar oder nicht) beurteilt. Beispiele: Ein stark feuchter Belag weist auf Kälte oder Feuchtigkeit im Körper, ein trockener auf Verbrauch von Körperflüssigkeit, ein dicker Belag auf Nahrungsstagnation im Magen, auf ein Feuchte-Syndrom und dass äußere krankmachende Faktoren ins Körperinnere eingedrungen sind. Ein fehlender Zungenbelag mit rotem Zungenkörper weist auf Nieren-Yin-Mangel und Leber-Yin-Mangel hin. Ein dicker Zungenbelag deutet auf ein Fülle-Syndrom, ein fehlender auf ein Mangel-Syndrom. Ein weißer Zungenbelag findet sich bei der normalen Zunge (dabei dünn und nicht abwischbar), ein gelber Zungenbelag deutet auf ein Hitze-Syndrom hin. Ein Zungenbelag an der äußeren linken Seite weist auf das chinesische Organ Leber, an der äußersten rechten Seite auf die chinesischen Organe Gallenblase und Dreifacher Erwärmer hin. Eine rote Zungenspitze weist auf sog. Herz-Feuer hin. Die Zungenmitte steht mit der Milz und dem Magen in Verbindung, ein rotes Zungenzentrum ist ein Hinweis auf Hitze im Magen, ein purpurnes Zungenzentrum auf Blut-Stagnation im Magen.
Durch Rauchen kann der Zungenbelag künstlich grünlich oder grau verfärbt sein, durch Kaffee oder schwarzen Tee auch bräunlich. Beeren können den Zungenbelag rötlich oder schwarz färben. Milchprodukte können einen künstlichen weißen oder quarkartigen Belag verursachen. Bei der Beurteilung der Farbe von Zungenkörper und Zungenbelag können künstiches Licht oder starke Umgebungsfarben zu Verfälschungen führen.